Gibt es Quereinstiege auch unter Fachspezialisten und Führungskräften?  Geben Unternehmen Bewerber*innen mit bunten Lebensläufen überhaupt eine Chance? Gibt es auch Fälle, in denen man vom Quereinstieg abraten muss? Wie steht die Zielgruppe der 50plus-Jährigen zum Quereinstieg? Streben Menschen mit zunehmendem Alter nach Jobs mit mehr Sinnhaftigkeit? Zu diesen und weiteren Fragen habe ich für mein im Oktober 2025 erscheinendes Fachbuch „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen“ (Walhalla Fachverlag) Karrierecoach Vincent G.A. Zeylmans van Emmichoven interviewt.

Bei YouTube könnt ihr die Videoaufzeichnung des Interviews ansehen:


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Wer lieber liest statt zuhört, findet im Folgenden einen Auszug aus dem Interview – den Rest dann im Buch:

Welche typischen Quereinstiegsfälle erleben Sie in der Karriereberatung, Vincent Zeylmans?

Zu mir kommen Menschen, die eine berufliche Neuorientierung vorhaben und dabei Unterstützung benötigen. Manchmal ist der Wunsch intrinsisch getrieben und die Personen gehen proaktiv neue Wege, weil sie zum Beispiel immer schon einen beruflichen Herzenswunsch hatten, den sie sich nun erfüllen möchten. Gerade bin ich mit einem Rechtsanwalt aus der Region Westerwald in Verbindung, der seit zwanzig Jahren eine eigene Kanzlei betreibt, aber immer mehr operativ tätig sein muss, weil er kein Personal mehr findet. Dazu hat er keine Lust mehr.

Außerdem hat er eine große Leidenschaft zu Oldtimer-Fahrzeugen und er überlegt, eine Karosseriewerkstatt als Unternehmensnachfolger zu übernehmen. Das ist Quereinstieg pur! Er hat im Laufe seiner Karriere auch schon einmal sieben Jahre lang Apotheken mit Jutebeuteln beliefert, insofern ist ihm das Unternehmertum nicht völlig fremd. Aber obwohl er eine gewisse finanzielle Ausstattung mitbringt, muss er von der neuen Tätigkeit trotzdem leben. Er kann nicht entscheiden, sich jetzt einfach nur noch seinem Hobby zu widmen. Daher will eine solche Entscheidung reiflich überlegt sein.

Aus der Not heraus geboren

Bei anderen Personen ist die Neuorientierung aus der Not geboren, weil jemand gekündigt wird, seine Selbstständigkeit aufgibt oder weil Funktionen völlig wegfallen. Ich habe einige Kunden, die aus dem Printbereich, aus dem Offsetdruck kommen. Diese Jobs gibt es einfach nicht mehr und man ist gezwungen, sich anders zu orientieren. Ich begleite einen Herrn, der lange politisch, dann für eine Spendenorganisation tätig war. Eine Zeitlang hat er als Interimsgeschäftsführer Unternehmen saniert, doch während der Pandemie hat er seine Selbstständigkeit aufgegeben. Wie es in einer solchen Laufbahn weitergehen kann, ist eine spannende Frage, vor allem, wenn einzelne Blöcke im Lebenslauf nicht so recht zusammenpassen. Wir versuchen gerade, das herauszuarbeiten.

Eine Schiene, auf der er Erfahrung hat, ist die Strategie, eine andere die Kommunikation, eine dritte die Kundenbetreuung. Nun schauen wir gemeinsam, wo der rote Faden ist. Und dann kommen wir auf Gedanken wie Pressesprecher, Kommunikationsleiter, Business Development Manager, weil das Dinge sind, die er immer schon gemacht hat, ohne dass er diese Stellenbezeichnung auf der Visitenkarte hatte.

Ob als umgeschulte Betreuungskraft in einer Pflegeeinrichtung oder als Informatikerin beim Bundesverwaltungsamt, als Musiker im Lehramt oder Hausnotruf-Kundenbetreuerin ganz ohne Qualifikation – Quereinsteigende bilden eine tragende Säulein vielen Berufsfeldern. Längst nicht mehr nur als Notlösung, sondern zunehmend als wichtige Stellschraube gegen den Fachkräfte- und Personalmangel verstanden, sind sie gefragt wie nie. Und mit engagierter Personalentwicklung oft sogar mittelfristig als „echte“ Fachkräfte einsetzbar.

In meinem Fachratgeber „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen: Ein Recruitingleitfaden für Behörden und gemeinnützige Organisationen“ (Maja Roedenbeck Schäfer, Walhalla Fachverlag, 2025) erfahrt ihr mehr über die Erfolgsfaktoren eines strukturierten Quereinsteiger-Programms. Außerdem gibt es Best Practice-Beispiele u.a. aus den Bereichen Kita, Pflege und Verwaltung.

Aus dem Architekturbüro ins Marketing

Gerade abgeschlossen habe ich außerdem den Fall einer Dame, auf dessen Ergebnis wir beide ganz stolz sind. Sie kam aus einem Architekturbüro und fühlte sich nach zehn Jahren eingeengt. Die Tätigkeit passte nicht so recht zu ihr und sie wollte ihre dort erlernten Fähigkeiten nun anderswo einbringen, wo sie auch honoriert werden würden. Wir haben herausgefunden, dass das Thema Marketing und Kommunikation gut zu ihr passen würde, weil sie in Kundenprojekten viel kommuniziert hatte. Und genau das macht sie jetzt bei einem Eventunternehmen unter dem Etikett Marketing/Kommunikation.

Sie hatte selbst nie an eine solche Berufsbezeichnung gedacht und die Idee war für sie zunächst gewöhnungsbedürftig, aber nachdem sie zehn bis fünfzehn ausgeschriebene Stellen im Bereich Marketing und Kommunikation angeschaut hatte, stellte sie fest, dass die beschriebenen Tätigkeiten zu 80 oder 85 Prozent mit dem übereinstimmten, was sie im Architekturbüro auch schon gemacht hatte. Also freundete sie sich mit dem Gedanken an, schrieb Initiativbewerbungen an Unternehmen, die von den Werten her für sie passten. Schon beim zweiten Unternehmen hat es geklappt und sie ist jetzt sehr glücklich.

Sind Unternehmen von bunten Lebensläufen nicht eher abgeschreckt und geben solchen Bewerber*innen keine Chance?

Ja, darin liegt ein Stück Hausaufgabe für einen Karrierecoach wie mich. Es ist meine Aufgabe, den roten Faden und die Story im Lebenslauf zu finden und sie für potenzielle Arbeitgeber verständlich zu machen. Mit „Story“ meine ich nicht, etwas zu erfinden, was es nicht gibt, keine Kosmetik, kein Blenden, sondern gemeinsam mit jemandem den roten Faden in seinem Werdegang zu erarbeiten und den nächsten Schritt plausibel zu machen. Dazu frage ich: Was waren die Aspekte, die sich in den bisherigen Tätigkeiten wiederholt haben, und wie können die im Lebenslauf sichtbar gemacht werden? Das können Aufgaben, Kompetenzen und Berufserfahrungen in Bereichen wie Planung, Organisation, Überzeugungsarbeit, Strategie, Kommunikation, Konzeption oder Analyse sein.

Wenn die Zielposition klar ist, ist es möglich, einen Lebenslauf perspektivisch anstatt retrospektiv zu betrachten. Möchte ich mit gewissen Kompetenzen wahrgenommen werden, habe ich die Möglichkeit, meinen Lebenslauf geringfügig anzupassen. Wenn ich bestimmte Themen bearbeitet habe, aber vielleicht nur zu fünf Prozent, kann ich sie deutlicher herauskehren oder sogar an erster Stelle platzieren. Ich kann ein Deckblatt für meine Bewerbungsmappe erstellen, auch wenn das kein offizielles Element der Bewerbung ist, das gefordert wird, und alle Aspekte aus meinem Lebenslauf herausheben, die mich für die Position prädestinieren, die ich ins Auge gefasst habe: Kompetenzen, Erfolge, berufliche Stationen.

Arbeitgebern eine Brille aufsetzen

Dadurch bin ich in der Lage, einem potenziellen Arbeitgeber eine Brille aufzusetzen. Zumal Untersuchungen ergeben haben, dass Arbeitgeber den Unterlagen bei der ersten Durchsicht weniger als zwei Minuten widmen. Aufgrund von Layout und Platzierung nach dem AIDA-Prinzip (Attention, Interest, Desire, Action) kann ich die Wahrnehmung eines Arbeitgebers durchaus steuern, ohne ihn zu manipulieren oder etwas zu tun, was nicht der Wahrheit entspricht.

Persönlich bin ich auch in der heutigen Zeit ein Fan von Anschreiben, auch wenn viele Unternehmen sie nicht mehr verlangen, um gewisse Dinge, gerade wenn der Lebenslauf erklärungsbedürftig ist, zu artikulieren. Wenn ein Bruch offensichtlich ist, habe ich die Möglichkeit, ihn direkt anzusprechen. Ein Anschreiben soll den Lebenslauf aber nicht defensiv verteidigen, auf Defizite aufmerksam machen und etwaige Fragen vorwegnehmen, sondern Stärken in den Mittelpunkt stellen.

Ein Kunde, mit dem ich gerade beschäftigt bin, war dreißig Jahre im Einkauf im Raum Dortmund beschäftigt und möchte nun Menschen coachen. Wenn es einen solchen Bruch gibt, muss ich zwei Sätze dazu sagen, aber im Idealfall begründen, warum die vergangenen dreißig Jahre keine verlorenen Jahre waren – auch in Bezug auf die neue Tätigkeit. Wichtig ist, dass der potenzielle Arbeitgeber nicht selbst die Bewerbungsunterlagen durchsuchen muss, um mögliche Anknüpfungspunkte zu finden [WEITERLESEN]

Und hier auch noch der Link zum Fachratgeber „50+ erfahren sucht – Die besten Bewerbungsstrategien“ (metropolitan Verlag, 2025)  von Vincent Zeylmans.

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