Mit dem Interesse an der Rekrutierung von Quereinsteigenden gewinnt ein verwandtes Thema neuen Schub, das Bildungsexpertinnen und -experten bereits mindestens seit 2013 ins Bewusstsein der deutschen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu bringen versuchen: die kompetenzorientierte Personalarbeit. Sie beurteilt Mitarbeitende nicht mehr nur nach ihrem Berufsabschluss, sondern nach ihren Fähigkeiten („Kompetenzen“), die sie in Ausbildungen und Studiengängen, Fort- und Weiterbildung, aber auch in anderen Zusammenhängen erworben haben. Dadurch werden Einsatzmöglichkeiten in der Arbeitswelt sichtbar, die beim eingeschränkten Blick auf die im Stellenplan vorgesehene Berufsqualifikation für eine bestimmte Vakanz gar nicht aufgefallen wären.
Damit Kompetenzorientierung nicht auf Personalarbeit „nach Bauchgefühl“ hinausläuft, was ein gewaltiger Rückschritt wäre, wurden auf europäischer und bundesdeutscher Ebene sogenannte Qualifikationsrahmen festgelegt, in denen sowohl Berufsabschlüsse als auch Kompetenzen in Stufen („Qualifikationsniveaus“) eingeordnet werden.
Die Soziologin Dr. Annett Herrmann beschäftigt sich in ihrer Position als Referentin für Berufliche Bildung und Qualifizierung in sozialen Berufen im Vorstandsbüro Sozialpolitik der Diakonie Deutschland bereits seit 2015 mit diesem Thema. In ihrer Publikation „Personalarbeit 4.0: Arbeit kompetenzorientiert gestalten“ (Waxmann Verlag, 2017) beschreibt sie, wie der Blick auf die Fähigkeiten von Mitarbeitenden die Arbeitswelt verändern kann.
[WERBUNG] Eine Mischung aus fachtheoretischem Hintergrundwissen und Praxisbeispielen angewandter Kompetenzorientierung aus sozialen Trägern bietet der Fachratgeber: „Personalarbeit 4.0 – Arbeit kompetenzorientiert gestalten“ von Annett Herrmann (Waxmann Verlag, 2017; Amazon Affiliate Link). Wichtigste Erkenntnis: Kompetenzorientierung erfordert ein Umdenken auf vielen Ebenen und ist nicht „mal schnell gemacht“.
Frau Dr. Herrmann, was genau bedeutet kompetenzorientierte Personalarbeit?
Kompetenzorientierte Personalarbeit meint, dass nicht nur formale Abschlüsse oder Berufserfahrungen relevant sind, sondern die Kompetenzen einer Person im Mittelpunkt stehen – also das, was jemand in der Praxis konkret leisten kann. Kompetenzen umfassen dabei nicht nur Wissen und Fertigkeiten, sondern auch personale und soziale Fähigkeiten wie Selbstverantwortung, Teamfähigkeit oder Problemlösungskompetenz.
Diese Perspektive hat weitreichende Konsequenzen für alle Bereiche der Personalarbeit: In der Personalgewinnung bedeutet es beispielsweise, dass sich Stellenprofile und Bewerbungsverfahren an konkreten Handlungskompetenzen orientieren. In der Personalentwicklung geht es darum, vorhandene Kompetenzen zu identifizieren, gezielt weiterzuentwickeln und Mitarbeitenden realistische Lern- und Entwicklungspfade anzubieten – entlang des Prinzips des lebensbegleitenden Lernens. Kompetenzorientierte Personalarbeit ist also keine Einzelmaßnahme, sondern ein umfassendes Gestaltungsprinzip, das zu einer strategischen Ressource für Organisationen wird.
Was hat es mit dem Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) auf sich?
Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) ist ein Instrument, das Bildungsabschlüsse in Deutschland anhand von Lernergebnissen auf acht Niveaustufen vergleicht. Dabei geht es nicht darum, wie lange oder wo jemand gelernt hat, sondern darum, welche Kompetenzen vorhanden sind. Der DQR berücksichtigt Fachkompetenz ebenso wie personale Kompetenz – also nicht nur Wissen, sondern auch Urteilsvermögen, Verantwortungsbereitschaft oder die Fähigkeit zur Kommunikation.
Was den DQR so besonders macht, ist seine Kompetenzorientierung: Er stellt nicht den Abschluss, sondern das Ergebnis des Lernens in den Mittelpunkt. Das verändert nicht nur die Bewertung von Bildungswegen, sondern auch die Anforderungen an die Personalarbeit. Denn um Anschlüsse zu ermöglichen und Übergänge zu gestalten, braucht es eine gemeinsame Sprache über Kompetenzen – genau das liefert der DQR.
Erklärfilm „Arbeit kompetenzorientiert gestalten“
Das Video wird von Youtube eingebettet. Bitte vor dem Abspielen die Datenschutzhinweise unter Punkt "Plugins und Tools" beachten.
Welche Auswirkungen hat kompetenzorientierte Personalarbeit auf die verschiedenen Bereiche der Personalpraxis?
Die Auswirkungen sind erheblich – und sie betreffen alle Phasen des Personalzyklus. In der Personalgewinnung entstehen durch kompetenzorientierte Anforderungsprofile präzisere Stellenausschreibungen, die nicht nur Tätigkeiten aufzählen, sondern konkrete Kompetenzen benennen, die für die jeweilige Position entscheidend sind. Im Bewerbungsprozess wird gezielt danach gefragt, ob und wie die Bewerbenden diese Kompetenzen in ihrem bisherigen Werdegang erworben haben – unabhängig davon, ob dies formell (= Ausbildung, Studium), non-formal (= Fort- und Weiterbildungen) oder informell (= außerhalb der vier genannten Bereiche erworben) geschah.
Im Onboarding können mithilfe von Verhaltensankern und Kompetenzrastern die Erwartungen transparent gemacht werden. Gespräche in der Probezeit orientieren sich an klaren Kompetenzbeschreibungen und ermöglichen so eine fundierte Rückmeldung. Auch in der Personalentwicklung verändert sich die Perspektive: Lernen wird nicht als punktuelle Maßnahme gesehen, sondern als kontinuierlicher Prozess – etwa durch individuelle Entwicklungspläne, Coaching oder Lernangebote „on the job“.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Kompetenzorientierung und dem Quereinstieg?
Einen sehr direkten. Quereinsteigende bringen häufig umfangreiche Kompetenzen mit – etwa aus anderen Berufsfeldern, aus ehrenamtlichem Engagement oder aus der Familienarbeit. Diese Kompetenzen können für die jeweilige Berufstätigkeit relevant sein, werden aber im klassischen Bewerbungsverfahren nicht systematisch erfasst.
Kompetenzorientierte Verfahren machen diese Fähigkeiten sichtbar. Eine Bewerberin muss nicht zwingend einen formalen Abschluss nachweisen, sondern kann durch situative Beispiele und Reflektion zeigen, dass sie die geforderten Kompetenzen mitbringt. Dies ermöglicht einen fundierten und gleichzeitig offenen Zugang zum jeweiligen Arbeitsfeld. Allerdings sind soziale Berufe reglementierter als andere Berufe, da sie höhere Anforderungen in der Ausübung der Tätigkeit mitbringen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass es sich um „Arbeit mit Menschen“ handelt.
Weiterlesen im Fachratgeber
Auf folgende Fragen zur kompetenzorientierten Personalarbeit geht Dr. Annett Herrmann ausführlicher in meinem Fachratgeber „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen“ (Walhalla Fachverlag, 2025) ein:
- Was ist der KoKoP-Kreislauf und wie führt er zu einer umfassend kompetenzorientierten Personalarbeit?
- Wie können Arbeitgeber die Kompetenzorientierung im Bewerbungsverfahren berücksichtigen?
- Welche Instrumente wurden bereits entwickelt, um Kompetenzen strukturiert sichtbar machen und vergleichen zu können?
- Welche Weiterentwicklungen im Feld der Kompetenzorientierung stehen an?
- Wie können Unternehmen ihre Stellenausschreibungen kompetenzorientiert gestalten?
Ob als umgeschulte Betreuungskraft in einer Pflegeeinrichtung oder als Informatikerin beim Bundesverwaltungsamt, als Musiker im Lehramt oder Hausnotruf-Kundenbetreuerin ganz ohne Qualifikation – Quereinsteigende bilden eine tragende Säulein vielen Berufsfeldern. Längst nicht mehr nur als Notlösung, sondern zunehmend als wichtige Stellschraube gegen den Fachkräfte- und Personalmangel verstanden, sind sie gefragt wie nie. Und mit engagierter Personalentwicklung oft sogar mittelfristig als „echte“ Fachkräfte einsetzbar.
In meinem Fachratgeber „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen: Ein Recruitingleitfaden für Behörden und gemeinnützige Organisationen“ (Maja Roedenbeck Schäfer, Walhalla Fachverlag, 2025) erfahrt ihr mehr über die Erfolgsfaktoren eines strukturierten Quereinsteiger-Programms. Außerdem gibt es Best Practice-Beispiele u.a. aus den Bereichen Kita, Pflege und Verwaltung.



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