Was unterscheidet Quereinsteiger*innen von Seiteneinsteiger*innen? Das ist nirgendwo abschließend definiert. Teils werden die Begriffe synonym verwendet, teils bezeichnet der Seiteneinstieg eine besondere Form des Quereinstiegs.
In Bezug auf das Lehramt gilt in manchen Bundesländern eine Person, die ohne Lehramtsstudium ins Referendariat geht, als Quereinsteiger*in, eine Person, die das Referendariat überspringt und berufsbegleitend pädagogisch qualifiziert wird, als Seiteneinsteiger*in. In der Pflege spricht man z.B. von einem Seiteneinstieg, wenn ein*e gelernte*r Altenpfleger*in im Krankenhaus arbeitet.
In diesem Beitrag schauen wir uns die Geschichte von Amadeus, 54, an. Er nennt sich selbst einen Seiteneinsteiger, weil er beim Berufswechsel (vom Physiotherapeuten zum Pflegefachmann) in derselben Branche (Gesundheitswesen) geblieben ist und beim Wechsel des Einsatzbereiches (von der Orthopädie in die Psychosomatik) zwar der grundsätzlichen Tätigkeit treu geblieben ist (Pflege), die aber in den beiden Einsatzbereichen andere Aufgabenschwerpunkte und ein anderes Rollenverständnis beinhaltet.
Warnung: Die nun folgende Karrieregeschichte von Amadeus enthält verstörende Inhalte, die psychisch belastend sein und traumatische Erinnerungen auslösen können.
Amadeus, wie hat Ihre berufliche Laufbahn begonnen?
Ich habe zuerst die Ausbildung zum Sportphysiotherapeuten absolviert und musste dann zum Wehrdienst. Aus dem Pflichtjahr sind 20 Jahre bei der Bundeswehr geworden. Ich habe dort eine zweite Ausbildung zur Pflegefachkraft absolviert und wurde zu Einsätzen in den Irak, in den Kosovo, nach Italien und Griechenland geschickt. Vier Jahre lang war ich in Amerika.
Ich habe also einiges von der Welt gesehen. Dabei war ich mit der humanitären Hilfe betraut und nicht im direkten Kriegsgeschehen eingesetzt, aber besonders im Jugoslawienkrieg und im ersten Irakkrieg habe ich einiges mitbekommen. Zum Beispiel konnten wir nachts selbst in unserem von den Amerikanern geführten und gesicherten Camp nicht gefahrlos zur Toilette gehen. Von den umliegenden Hügeln wurde mit Leuchtmunition auf uns gefeuert. Wie im Actionfilm musste man mit kugelsicherer Weste und Splitterschutz aufs Klo. Was ich auch nie vergessen werde, sind die Kinder, die in eine Sprengfalle gefasst hatten. Die Fallen wurden mit Teddybären präpariert, und wenn das Kind das Stofftier aufheben wollte, explodierten sie.
Wie haben Sie diese Erlebnisse verarbeitet?
Ehrlich gesagt habe ich sie auch 20 Jahre später noch nicht richtig verarbeitet. Im Gegensatz zu heute gab es damals keine Sozialpsychologinnen und -psychologen bei der Bundeswehr. Uns wurde gesagt: „Das verwächst sich!“ Heute gibt es eine eigene Abteilung für posttraumatische Belastungsstörungen. Ich kann mit niemandem über meine Erfahrungen reden, weil niemand wirklich versteht, was ich erlebt habe. Nicht einmal meine Frau weiß alles, und das belastet mich manchmal doch noch. Ich kann mir keine Kriegsfilme ansehen, keine Nachrichten über den Gazastreifen lesen, keine Kriegsspiele am PC ertragen. Selten schrecke ich auch noch nachts aus dem Schlaf hoch und weiß nicht, warum. Oft sagt man mir, ich soll mal eine Therapie machen. Eigentlich kann ich das nicht mehr hören. Es ist heutzutage ja fast schon ein Modetrend, dass jeder eine Therapie macht. Aber vielleicht sollte ich doch mal darüber nachdenken, diese Thematik aufzuarbeiten.
Was geschah zwischen der Bundeswehr und Ihrem jetzigen Job in der Psychosomatik?
Ich habe zwanzig Jahre als Pflegefachkraft in der Orthopädie und Unfallchirurgie gearbeitet. Das passte zu meiner Erstausbildung als Sportphysiotherapeut. Knochen waren einfach mein Ding. Bis ich gemerkt habe, dass ich bei der Arbeit unkonzentriert und fast schon fahrlässig wurde. Es war einfach immer dasselbe: Schulter, Hüfte, Knie. Ich brauchte einen Perspektivwechsel, ich wollte kein sogenannter „Fachidiot“ für nur eine Fachrichtung bleiben.
Es gab noch einen zweiten Aspekt, mit dem ich zunehmend weniger klarkam. Ich habe in einer Privatklinik gearbeitet, deren sechs Anteilseignerinnen und -eigner am Ende des Jahres ordentlich Kasse machen wollten. Aus ihrer Praxis haben sie sich die Patientinnen und Patienten in die Klinik und zurück überwiesen. So blieb das Geld schön in den eigenen Reihen hängen. Ich habe gemerkt, dass ich das nicht mehr mitmachen und lieber bei einem gemeinnützigen Träger arbeiten möchte. Nicht zuletzt war mir der Arbeitsweg zu weit und ich wollte mehr Freizeit und Familienzeit haben.
Der Seiteneinstieg war dann wie eine Vollbremsung. Ich bin voll aus meiner Komfortzone rausgeflogen. Das war eigentlich gar nicht meine Absicht gewesen, aber ich wusste, ich brauche eine Veränderung. Als die Pflegedienstleiterin beim neuen Arbeitgeber mich überzeugen wollte, in der Orthopädie und Unfallchirurgie einzusteigen, wo ich schon viel Berufserfahrung mitbrachte, habe ich abgelehnt. Ich habe gesagt: „Ich will etwas wagen, was ich noch nie gemacht habe!“
Sind Sie als Seiteneinsteiger nun zufrieden dort, wo Sie sind?
Ich muss noch etwa zwölf Jahre arbeiten, bis ich das Rentenalter erreicht habe, und merke, dass für mich karrieremäßig das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Ich hätte mich für die Weiterbildung zur Fachkraft für psychiatrische Pflege interessiert, aber mir wurde erklärt, dass wir erstens schon genügend Personen mit dieser Qualifikation im Team haben und man mich zweitens nicht zwei Jahre in der Abteilung entbehren kann. Für die Weiterbildung müsste ich Praxisphasen in anderen Abteilungen durchlaufen, wäre zum Theorieunterricht abwesend.
Das hat mich durchaus frustriert, aber ich habe auch Verständnis dafür: So eine Weiterbildung kostet den Arbeitgeber viel Geld, und wenn er sie einem Mitarbeitenden ermöglicht, möchte er danach natürlich möglichst lange davon profitieren. In meinem Alter sind das aber nicht mehr so viele Jahre.
Im Corporate Influencer-Programm unseres Unternehmens habe ich stattdessen eine andere Möglichkeit gefunden, nochmal einen neuen Impuls zu setzen und meine Motivation zu erhalten. Mein Interesse an Social-Media, das hobbymäßig schon immer da war, kann ich nun professionalisieren. Warum nicht den Arbeitgeber in einer Art und Weise vertreten, die Spaß macht? Gerne möchte ich helfen, die nächste Generation von Mitarbeitenden zu gewinnen. Mir kommt es nicht darauf an, unbedingt ganz viele Followerinnen und Follower zu generieren und Tag und Nacht nur noch mit Social-Media beschäftigt zu sein. Dazu bin ich zu sehr Familienmensch. Wenn es natürlich doch so kommen sollte, muss ich die Karten neu mischen und überlegen, was ich damit mache.
Weiterlesen im Fachratgeber
Auf folgende Fragen geht Amadeus in meinem Fachratgeber „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen“ (Walhalla Fachverlag, 2025) ein:
- Welche Kompetenzen außer dem Berufsabschluss, die Seiteneinsteiger*innen in anderen Zusammenhängen gewonnen haben können, sind in der psychosomatischen Pflege wichtig?
- Wie ist es, als Seiteneinsteiger*in in der psychosomatischen Pflege zu arbeiten, und welche Erfahrungen aus anderen Zusammenhängen helfen Ihnen dabei?
- Was möchten Sie in den Sozialen Netzwerken über Ihren Arbeitsbereich rüberbringen?
- Wie hat der Seiteneinstieg Sie persönlich verändert?
Ob als umgeschulte Betreuungskraft in einer Pflegeeinrichtung oder als Informatikerin beim Bundesverwaltungsamt, als Musiker im Lehramt oder Hausnotruf-Kundenbetreuerin ganz ohne Qualifikation – Quereinsteigende bilden eine tragende Säulein vielen Berufsfeldern. Längst nicht mehr nur als Notlösung, sondern zunehmend als wichtige Stellschraube gegen den Fachkräfte- und Personalmangel verstanden, sind sie gefragt wie nie. Und mit engagierter Personalentwicklung oft sogar mittelfristig als „echte“ Fachkräfte einsetzbar.
In meinem Fachratgeber „Quereinstieg: Potenziale nutzen, Personallücken schließen: Ein Recruitingleitfaden für Behörden und gemeinnützige Organisationen“ (Maja Roedenbeck Schäfer, Walhalla Fachverlag, 2025) erfahrt ihr mehr über die Erfolgsfaktoren eines strukturierten Quereinsteiger-Programms. Außerdem gibt es Best Practice-Beispiele u.a. aus den Bereichen Kita, Pflege und Verwaltung.
Bild: Image by Mostafa Elturkey from Pixabay


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