Neugierig ein bisschen herumgespielt haben wir alle schon mit ChatGPT und uns vielleicht sogar schonmal eine Struktur für einen Workshop oder ein Bewerbungsanschreiben erstellen lassen. Aber haben wir wirklich verstanden, welche große Hilfe diese Technologie und andere KI-Tools im Arbeitsalltag sein und welchen Wettbewerbsvorteil sie uns verschaffen können? In diesem Interview räumt KI-Stratege Andreas Rödenbeck mit den größten Irrtümern auf und stellt Anwendungsfälle im Recruiting vor. Live könnt ihr ihn übrigens am 11. Juni 2025 in einem kostenlosen Webinar bei der Charismaschmiede zu dem Thema hören.
Übrigens, das Titelbild habe ich gleich mal mit KI (Microsoft Copilot) erstellt. Die Originalvorlage seht ihr hier links. Nun aber zum Interview:
Welche Irrtümer gibt es rund um das Thema KI in Unternehmen?
Da kommen einige zusammen. Ich beschreibe mal die drei häufigsten:
Irrtum No. 1: „Ich muss jetzt was mit KI machen, denn das ist der neueste Trend“
Genauso wenig wie es Sinn macht zu sagen: „Wir müssen mal eine Digitalisierungsstrategie schreiben, weil jetzt alle eine haben“, macht es Sinn, irgendein KI-Projekt auf den Weg zu bringen, nur weil das gerade in aller Munde ist. Der Ansatz muss immer ein konkretes Problem oder Ziel sein, für das ich eine Lösung oder einen Weg suche. KI ist eine neue Technologie, ein Werkzeug, um diese Lösungen zu entwickeln und diese Wege zu finden.
„Ich will Kosten einsparen“, könnte ein sinnvoller Ansatz sein. Als Faustregel gilt: 30 Prozent Kostenersparnis sind durch KI möglich. Wenn dein Wettbewerber über alle Prozesse hinweg – von der Produktion über das Marketing bis zum Vertrieb – Künstliche Intelligenz einsetzt, kann er sein Produkt um 30 Prozent günstiger anbieten oder 30 Prozent seines Gewinns für Weiterentwicklungen einsetzen. So verschafft er sich einen immensen Wettbewerbsvorteil.
Irrtum No. 2: „KI ist nicht kreativ“
Gerade Personen aus den künstlerischen Berufen – Grafiker*innen, Fotograf*innen, Musiker*innen, Texter*innen, Marketingexpert*innen – sind oft skeptisch gegenüber KI. Sie haben diese Berufe ja schließlich gewählt, weil sie kreativ sein möchten und nicht, weil sie mit Maschinen arbeiten wollten. Softwareentwickler*innen sind da einfacher zu überzeugen. Ihnen ist das Werkzeug egal, mit dem sie ihre Programme schreiben, Hauptsache es funktioniert und geht schnell.
Aber auch Personen in künstlerischen Berufen sollten umdenken: Erstens ist Künstliche Intelligenz sehr wohl kreativ – oder wir sagen auch transformativ dazu. Sie kann Lösungen für Probleme finden, die sie noch nie zuvor bearbeitet hat, indem sie sie aus ähnlichen Fällen ableitet. Das ist im Grunde nichts anderes als die Kreativität eines Handwerkers, der ein Waschmaschinenmodell reparieren soll, das er nicht kennt oder für das er nicht die richtigen Ersatzteile dabei hat, und der durch seine umfangreichen Erfahrungen trotzdem den Fehler findet und eine Lösung mit den vorhandenen Teilen improvisiert.
Zweitens geht es ja nicht darum, KI deinen Text komplett alleine schreiben zu lassen oder sämtliche Bilder nur noch von KI erstellen zu lassen. Du brauchst immer noch Skills, musst gute Ausgangsideen haben, gute Prompts schreiben, die Künstliche Intelligenz mit deinem Input füttern und die KI-Ergebnisse überarbeiten. Aber es macht eben einen riesigen Unterschied vom Aufwand her, ob du als Fotograf*in ein Foto schießt und es von KI optimieren und in verschiedenen Versionen ausliefern lässt, oder ob du den ganzen Tag damit verbringst, Fotos zu machen, in der Hoffnung, dass eine Handvoll gute dabei sind. Die KI-unterstützte Version kannst du darum auch günstiger anbieten.
Irrtum No. 3: „KI ist ja ganz lustig, aber ich mache da nicht mit“
Jede*r von uns hat schon Berührungspunkte mit KI, vielleicht ohne es zu merken. Man kann sich dem gar nicht mehr verschließen. Und KI ist viel mehr als ChatGPT! Auf der ersten Seite der Google-Ergebnisse bekomme ich, wenn ich eine Suchanfrage eingegeben habe, bereits eine KI-generierte Antwort, die mit einem kleinen, blauen Diamanten gekennzeichnet ist. Apps, die zum Beispiel Songs erkennen können oder per Fotodiagnose eine Pflegeanleitung für eine kranke Pflanze liefern, funktionieren mit Künstlicher Intelligenz.
Der Einzug von KI ist nicht vergleichbar mit dem Einzug etwa von neuen Social Media-Plattformen wie Instagram und TikTok, die ältere Plattformen wie Facebook verdrängen, und von denen ich ohne allzu große Nachteile auch einmal die eine oder andere auslassen kann. Der Einzug der Künstlichen Intelligenz ist vielmehr vergleichbar mit der Einführung des Internets. Sie verändert alles – wie wir arbeiten, wie wir kommunizieren, und grundlegend unsere Arbeitsweise und Geschäftsprozesse. KI ist nicht nur ein Upgrade, sondern ein Paradigmenwechsel und verändert ganze Branchen tiefgreifend.
Welche Anwendungsfälle sind im Bereich Recruiting und HR denkbar?
KI kann eine Recruitingstrategie schreiben, Blogartikel für den Karriereblog oder eine Entscheidungsvorlage für den Aufsichtsrat mit Argumenten, warum das Recruitingbudget aufgestockt werden muss. Das sind Beispiele für verhältnismäßig einfache Anwendungsfälle. Etwas komplexere Cases wären die Produktion von Erklärfilmchen mit einem Avatar zum Beispiel für eine Instagram-Serie. Oder das Führen von Vorstellungsgesprächen mit ausländischen Bewerber*innen in einer natürlich klingenden KI-Stimme in der jeweiligen Fremdsprache. Darüberhinaus gibt es sehr viele konkrete und komplexere Hebel entlang des Mitarbeiterzyklus, an denen man mit KI ansetzen kann. Hier mal drei Beispiele:
Bedarfsermittlung („Forecasting“)
Man spricht von „Predictive Analytics“, wenn man KI dazu einsetzt, um die Auslastung eines Krankenhauses oder Pflegeheims oder die Kündigungswahrscheinlichkeit unter den Mitarbeitenden für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft prognostizieren zu lassen. Gefüttert mit gesetzlichen Regelungen zu Personalbemessungsverfahren und Fachkraftquoten könnte die Künstliche Intelligenz einen Sollstellenplan und eine Personalbedarfsanalyse erstellen.
Programmatic Sourcing
KI kann Stellenanzeigen schreiben und vergleichen, welche Stellenanzeigentexte besser bei den Bewerber*innen ankommen. Das ist gerade für kleine Sozial- oder Pflegeeinrichtungen, die keine eigene HR Abteilung haben, interessant. Oder für Mitarbeitende, die als Quereinsteiger*innen ins Recruiting Team kommen und für das Formulieren lange brauchen. Für nur 20 Euro Lizenzgebühr im Monat kann man sich das Leben mit ChatGPT enorm erleichtern. Wichtig: Vom Menschen geschriebene Stellenanzeigen konvertieren besser. Gerade in der heutigen Zeit sind Stellenanzeigen keine Massenprodukte und müssen inspirieren. Deshalb können die KI-Vorlagen immer nur ein erster Schritt sein.
Die Künstliche Intelligenz kann auch auswerten, über welche Kanäle eine konkrete Stellenanzeige am besten verbreitet werden sollte, um den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. Dienstleister, die Programmatic Sourcing- oder Programmatic Advertising-Lösungen anbieten, nutzen schon länger Künstliche Intelligenz. Komplett automatisiert verschieben ihre Tools das Budget für die Stellenanzeigenschaltung dorthin, wo die meiste Resonanz herauskommt, anstatt wie früher die Multiposting-Anbieter einen einmonatigen Slot in einer Stellenbörse zu buchen und dann zu hoffen, dass es die richtige war.
Man kann sich auch eine Marktanalyse zum Beispiel des Pflegemarktes in Deutschland inclusive Personalgewinnungsstrategie schreiben lassen. Die Künstliche Intelligenz stellt einige Rückfragen und betreibt dann „Deep Research“. Ich habe das einmal probeweise mit ChatGPT gemacht. In elf Minuten bekam ich ein 16-seitiges Dokument, das 34 Quellen berücksichtigt, die auch im Literaturverzeichnis aufgelistet sind. Es bespricht beeindruckend detailliert den Fachkräftemangel in der Pflege, Lösungsansätze, um den Pflegeberuf aufzuwerten, die Social Media und eine kleine Contentstrategie als Akquisekanal und das internationale Recruiting mit seinem Potenzial und seinen Hürden. Früher hätte eine Agentur 5.000 Euro für eine solche Analyse verlangt!
Screening-Prozesse
KI kann Bewerbungen auswerten und vorsortieren: passt dieser Lebenslauf zum ausgeschriebenen Stellenprofil? Aber Achtung, hier gibt es gesetzliche Grenzen. Laut dem EU AI Act ist Social Screening (also die automatisierte Persönlichkeitsanalyse) verboten. Das heißt, ich dürfte kein KI-Tool beim Vorstellungsgespräch mitlaufen lassen oder es mit Bewerberfotos füttern, um eine Prognose zu erfragen, welche*r Bewerber*in das passendste Persönlichkeitsprofil und die geeigneten Soft Skills für die Stelle hat. Künstliche Intelligenz könnte das anhand von Körpersprache, Sprachstil und anderen Faktoren ermitteln. Aber es ist eben verboten und auch die Frage, ob es überhaupt sinnvoll wäre. Ich würde, obwohl ich mich mit KI gut auskenne und mich dafür begeistere, meine Bewerber*innen immer noch lieber selber sehen wollen und den Menschen entscheiden lassen, ob sie in mein Team passen.
Es ist sehr wichtig, Künstliche Intelligenz verantwortungsvoll einzusetzen. Sie kann zum Beispiel Tipps für Gehaltsverhandlungen mit bestimmten Führungskräften geben. Anhand eines Fotos sagt sie dir, welche Argumente bei dieser Person am besten ziehen: zum Beispiel leistungs- und zahlenorientierte Argumente oder persönliche, mitarbeiterorientierte Argumente. Aus Datenschutzsicht müssen wir uns im HR jedenfalls darauf vorbereiten, in Zukunft schon im Bewerbungsformular abzufragen, ob die Kandidat*innen bestimmten KI-gestützten Auswertungsarten zustimmen.
Was kann Künstliche Intelligenz (noch) nicht?
KI funktioniert (noch) nicht ohne den Menschen. Zum einen braucht man Menschen, die wissen, wie man die richtigen „Prompts“ (Befehle) eingibt und die KI mit dem notwendigen Wissen füttert. Und zum anderen braucht man Menschen, die die Ergebnisse prüfen und redigieren. Expert*innen sprechen vom „human in the loop“.
Künstliche Intelligenz liefert Standardergebnisse von 70 bis 80 Prozent der Qualität, die ein*e Expert*in liefern würde – innerhalb viel kürzerer Zeit. Um herausragende Ergebnisse zu erzielen, brauche ich die Expert*innen, die die KI-Ergebnisse mit ihrer Innovationskraft aufwerten. Aber wenn sie sich die Grundlagenkonzepte mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellen, haben sie viel mehr Zeit, sich um diese Aufwertung zu kümmern.
Was bedeutet das in Bezug auf den Bereich Recruiting im Sozial- und Gesundheitswesen?
Konkret im Bezug auf das Sozial- und Gesundheitswesen werden wir noch eine Weile auf die KI-Roboter von Elon Musk und Co. warten müssen, bis die Pflege am Menschen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erledigt werden kann oder menschliche Reinigungskräfte nicht mehr benötigt werden. In fünf Jahren soll es soweit sein.
Aber schon jetzt kann KI Pflegekräften Dokumentations- und Organisationsaufgaben abnehmen und ihnen wieder mehr Zeit verschaffen, um sich direkt um die Patient*innen zu kümmern. Unternehmen, die die Technologie einsetzen, können das als attraktives Argument in ihren Stellenausschreibungen nennen. Im Moment sind es nur wissensbasierte Jobs und Aufgaben, die KI erledigen kann.
Nehmen wir eine Karrierewebsite. KI kann eine gute Standardwebsite mit allen wichtigen Features generieren. Aber für ein richtig gutes, inspirierendes Karriereportal brauche ich trotzdem noch Marketingexpert*innen. Sie lassen sich das Framework und vielleicht sogar Bild- und Grafikvorschläge per KI erstellen und übernehmen dann mit ihren Skills das Finetuning: Setzen Trendfarben ein, achten auf die Anwendung der Corporate Identity im Design, sorgen für das Tüpfelchen auf dem i.
Es wird aber nicht mehr lange dauern, bis KI nicht nur Handlungsvorschläge erarbeiten, sondern sie auch selbst umsetzen kann. Heute kann ich ihr sagen: „Schreibe mir Antwortbausteine für die häufigsten Bewerberfragen“. In Zukunft werde ich sagen können: „Beantworte die 300 Bewerberanfragen in meinem E-Mail-Postfach mit individuellen, in meinem eigenen Stil formulierten und mit hilfreichen Tipps versehenen E-Mails“. Dann füttere ich die Künstliche Intelligenz mit der Bewerberkommunikation der vergangenen Jahre und sechs Stunden später ist die Aufgabe erledigt, ohne dass ich nochmal drüberschauen muss. Wir KI-Expert*innen sprechen vom Schritt vom KI-Assistenten zum KI-Agenten, der als nächstes ansteht.
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